Beschreibung
Heiligenkulte haben über Jahrhunderte in mannigfaltiger Weise das Leben der Städte und deren Erscheinungsbild geprägt. Mit der Verbreitung des Christentums im Mittelmeerraum und nach und nach auch im nördlichen und östlichen Europa gehörte die Verehrung von als heilig angesehenen Männern und Frauen zur geistigen Grundlage städtischer Gemeinschaften, die um die Verehrten ihre Identität als Gruppe von Gleichgesinnten bildeten.
Es gehört zu den paradoxen Phänomenen des Selbstverständnisses von Heiligen, dass sie in ihrem Umfeld als Ausnahmeerscheinungen, als Auserwählte handeln, aber ihre Singularität in Wirklichkeit notgedrungen über eine soziale Dimension verfügt, die nicht einmal durch deren ausdrückliche, bisweilen exzessive Negierung (etwa bei Eremiten) völlig getilgt werden kann. Der Heilige ist als animal sociale auf seine Umgebung angewiesen, auf die er im Sinne einer Neubegründung von Werten (conversio) zu wirken versucht. Das ist seine Aufgabe.
Und dasselbe gilt selbstverständlich ebenfalls für jene Identifikationsfiguren aus früheren Zeiten, über die oft ‒ trotz der Bemühungen phantasiereicher Hagiographen ‒ nichts anderes bekannt war, als dass sie die Vollkommenheit der vita christiana verkörperten, und von denen die Gläubigen die irdischen Überreste aufbewahrten. Die Gräber der Heiligen prägten nicht nur das religiöse Leben der Menschen, die sich um sie scharten, sondern gestalteten auch den Raum, in dem diese lebten. Wo, wenn nicht in der Stadt, diesem lebendigen, sich in unaufhörlicher Bewegung neu gestaltenden Schmelztiegel, konnte dies besser erfahren werden? Wo, wenn nicht in den civitates des vormodernen Europas, erreichte die Kompenetration von sozialem Gefüge und kultischen Ausdrucksformen einen derart formenden Ausdruck?
Der vorliegende Band, der aus einer Erlanger Tagung für Jungwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler vom 8. bis zum 10. Juli 2013 hervorging, bietet mehrere Fallstudien zur Ausformung dessen, was wir urbane Sakralität nennen dürfen. Welche Züge trug sie in christlichen Gemeinschaften seit der Spätantike? Welche Faktoren beeinflussten sie am Mittelmeer und im nördlichen Europa? Wie entwickelte sie sich über die Zeit und welchen Einfluss übte sie auf den politischen, sozialen und kulturellen Diskurs ihrer Akteure aus? Welche Medien kamen dabei zur Geltung? Das Spektrum der Tagungsvorträge reichte vom spätantiken Alexandrien bis zum frühneuzeitlichen Palermo, von den süditalienischen Zentren bis zur Reichsstadt Köln. Sie verstanden sich ausdrücklich als Diskussionsgrundlage für Gespräche über die Fachgrenzen hinweg, was während der Tagung auch nicht ausblieb. Eingeladen waren Jungwissenschaftler aus mehreren Teilgebieten der Mediävistik. Die Fachrichtungen Byzantinistik, Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Lateinische Philologie des Mittelalters, Romanistik und Theologie waren auf der dreitägigen Erlanger Tagung vertreten, auf der die Einzelvorträge zum Teil kontrovers besprochen wurden.
Die aus den mündlich vorgetragenen Referaten hervorgegangenen schriftlichen Beiträge bezeugen unterschiedliche Qualifizierungsstufen.
Der Herausgeber hat sich bewusst dafür entschieden, alle eingegangenen Beiträge der Jungforscherinnen und -forscher in die Druckfassung aufzunehmen und sie mit zwei Texten von international anerkannten Spezialisten zu ergänzen. Es schien wichtig zu sein, das intendierte Spektrum der Fachrichtungen und Methoden vorzustellen, das die Erlanger Zusammenkunft kennzeichnete (es sei mir einmal vergönnt, den omnipräsenten, inzwischen für jedwedes Allerlei gebräuchlichen Begriff der Interdisziplinarität zu unterdrücken). Die Einladungen nach Erlangen wurden nämlich aufgrund eines Auswahlverfahrens mit dem Ziel ausgesprochen, wichtige Territorien und Epochen in der Geschichte der urbanen Sakralität christlicher Gemeinschaften vom 5. bis zum 17. Jahrhundert zu repräsentieren. Angestrebt wurde zwar der große Bogen, allerdings setzt er sich bekanntlich aus einzelnen, sorgfältig ausgearbeiteten Bauteilen zusammen. Die Autoren und der Herausgeber erheben deshalb keinen Anspruch auf eine wie auch immer enzyklopädische Zusammenschau, sondern laden die Leser auf eine lange und, wie wir hoffen, anregungsreiche Reise durch die christlichen Gesellschaften von der christlichen Spätantike bis zur Frühmoderne ein.
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